ADHS bei Erwachsenen
KLINIKUM aktuell: Herr Prof. Pogarell, was bedeutet ADHS genau?
Prof. Oliver Pogarell: ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. Hierbei handelt es sich um eine Hirnreifungsstörung, das heißt die Störung bildet sich während der Hirnentwicklung im Kindes- oder Jugendalter aus. Oftmals tritt die Erkrankung familiär gehäuft auf, die Erblichkeit ist entsprechend hoch. Die Kernsymptome einer ADHS sind Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Die einzelnen Symptome können jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt sein.
KLINIKUM aktuell: Dass eine ADHS erst im Erwachsenenalter festgestellt wird, ist gar nicht so selten. Woran liegt das?
Prof. Oliver Pogarell: Idealerweise sollte die Störung früh, das heißt bereits bei den ersten Anzeichen diagnostiziert und behandelt werden, um langfristige negative Folgen zu vermeiden. Oftmals werden die Symptome und die damit verbundenen Einschränkungen jedoch zu wenig ernstgenommen oder sie verändern sich während des Heranwachsens und werden dadurch übersehen. Auch ist der Zugang zu Diagnostik und Therapie im Kindes- und Jugendalter durch fehlende spezialisierte Therapeutinnen und Therapeuten nach wie vor sehr begrenzt – und dies, obwohl Schätzungen zufolge hierzulande bis zu sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Wenn ADHS erst im Erwachsenenalter festgestellt wird, handelt es sich somit nicht um eine neu entstandene, sondern um eine fortbestehende Störung. Der Beginn im Kindesalter ist auch ein wichtiges diagnostisches Kriterium.
KLINIKUM aktuell: Wie äußert sich eine ADHS im Erwachsenenalter?
Prof. Pogarell: Die Symptome im Erwachsenenalter entsprechen denen im Kindes- und Jugendalter, also vor allem Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität, desorganisiertes Verhalten, Impulsivität und Labilität. Die motorischen Symptome geraten bei Erwachsenen allerdings eher in den Hintergrund. Viele Betroffene berichten über Schwierigkeiten mit der Konzentration am Arbeitsplatz, Einschränkungen bei planerischen Aufgaben und dem Unvermögen, Tätigkeiten systematisch oder zielgerichtet auszuführen. Dass ADHS-Symptome in verschiedenen Lebensbereichen nachweisbar sind und zu spürbaren Einschränkungen in Alltag und Beruf führen, ist zugleich ein wichtiger diagnostischer Hinweis. Wichtig ist, dass auch mögliche Begleit- oder Folgeerkrankungen wie Depressionen, Ängste, Schlafstörungen oder auch Substanzmissbrauch erkannt und berücksichtigt werden. Außerdem gilt es, andere mögliche Ursachen für die Symptome auszuschließen.
KLINIKUM aktuell: Wie wird ADHS bei Erwachsenen festgestellt?
Prof. Pogarell: Die Diagnostik im Erwachsenenalter unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der bei Kindern und Jugendlichen. Es gibt keine Biomarker, das heißt es handelt sich um eine klinische Diagnose, die sich auf das Vorliegen von bestimmten Symptomkonstellationen und Funktionseinschränkungen im Alltag stützt. Entscheidend sind eine ausführliche Anamneseerhebung und eine gezielte Untersuchung. In der ADHS-Ambulanz lassen wir uns bei Erwachsenen auch Zeugnisse aus der Schulzeit vorlegen und erheben eine Fremdanamnese, um Hinweise auf Symptome bereits im Kindesalter zu erhalten. Es gibt Screening-Instrumente und Selbstbeurteilungsskalen, die zusätzlich herangezogen werden können.
KLINIKUM aktuell: Lässt sich ADHS auch im Erwachsenenalter noch behandeln?
Prof. Pogarell: Unabhängig davon, in welchem Alter die Störung diagnostiziert wurde, handelt es sich bei ADHS um eine behandelbare Erkrankung. Durch frühzeitige Therapieeinleitung lassen sich negative Folgen häufig gut begrenzen. Doch auch, wenn eine Therapie noch nicht bereits im Kindes- oder Jugendalter begonnen wurde, können Erwachsene erfolgreich behandelt werden.
KLINIKUM aktuell: Welche Behandlungsansätze gibt es?
Prof. Pogarell: Therapeutisch stehen bei Erwachsenen Medikamente im Vordergrund. Zusätzlich sind eine ausführliche Aufklärung und Beratung wichtig, ebenso hat sich die Förderung von Krankheitsbewältigung und Stressvermeidung im Rahmen eines multimodalen Therapieansatzes bewährt.
KLINIKUM aktuell: An wen können sich die Betroffenen wenden?
Prof. Pogarell: Leider gibt es eine Versorgungslücke und diagnostische-therapeutische Angebote sind im niedergelassenen Bereich nur eingeschränkt verfügbar. Tatsächlich handelt es sich bei ADHS nach wie vor um eine unterdiagnostizierte Störung mit einer sehr hohen Dunkelziffer an Betroffenen. Bei Verdacht auf Vorliegen der Störung können Hausärztin oder Hausarzt erste Ansprechpartner sein, von dort erfolgt dann eine Weitervermittlung an spezialisierte Praxen oder Einrichtungen. Erfahrung mit der Diagnosestellung haben Psychiaterinnen oder Psychiater. Manche Institutionen bieten Spezialambulanzen an – so wie wir in der Psychiatrischen Institutsambulanz des LMU Klinikums.