Krebs und Geschlecht
Inhalte dieser Seite
- Warum wir geschlechtersensible Medizin brauchen
- Beispiel Darmkrebs: Geschlecht beeinflusst Verlauf und Therapie
- Geschlechtsunterschiede in der Lage des Tumors beim Darmkrebs
- Molekulare Unterschiede zwischen den Geschlechtern beim Darmkrebs
- Nebenwirkung von Chemotherapien beim Darmkrebs: Frauen stärker betroffen
- Wirksamkeit von Therapien beim Darmkrebs: Männer profitieren mehr
- Lebensqualität nach der Darmkrebs-Behandlung
- Weitere Forschung zu Geschlechterunterschieden nötig
Warum brauchen wir geschlechtersensible Medizin?

Um die Bedeutung des Geschlechts in der Medizin zu verstehen, ist es wichtig, einen Unterschied zu kennen, den die deutsche Sprache kaum macht: Im Englischen wird zwischen „Sex“ (biologisches Geschlecht) und „Gender“ (soziales Geschlecht) unterschieden.
- „Sex“ bezeichnet körperliche Merkmale wie Chromosomen, Hormone, Organe und Körperbau – also ob jemand biologisch männlich oder weiblich ist.
- „Gender“ hingegen bedeutet mehr als nur „männlich und weiblich“, sondern ist erheblich vielfältiger. Unter dem Begriff versteht man, wie sich Menschen selbst sehen und wie sie gesellschaftlich wahrgenommen werden – mit all den Rollen, Erwartungen und Verhaltensmustern, die damit verbunden sind.
Beide Ebenen – biologisch und sozial – beeinflussen Gesundheit und Krankheit. Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur äußerlich, sondern auch in vielen biologischen Bereichen wie etwa dem Immunsystem, dem Hormonhaushalt oder der Körperzusammensetzung. Diese Unterschiede wirken sich auch auf die Wirkung und Verarbeitung von Medikamenten aus (1).
Auch das Verhalten unterscheidet sich häufig, geprägt durch gesellschaftliche Rollenbilder (1,2). Dazu gehören etwa Ernährung, Risikoverhalten, Gesundheitsbewusstsein oder die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen (2). Diese vermeintlich „weichen“ Faktoren beeinflussen ebenfalls, wie häufig Krankheiten auftreten, wie gut Therapien wirken und wie die Prognose ausfällt.
Medizin und Forschung beginnen, all diese Unterschiede stärker zu berücksichtigen. Dabei wird deutlich: Frauen brauchen in manchen Fällen eine andere Behandlung als Männer – und umgekehrt. Genau das leistet die geschlechtersensible Medizin („Gendermedizin“).
Beispiel Darmkrebs: Geschlecht beeinflusst Verlauf und Therapie

Darmkrebs gehört zu den häufigsten Krebsarten weltweit (3). Männer erkranken etwas häufiger an Darmkrebs, dennoch ist die Verteilung zwischen Männern (55 %) und Frauen (45 %) mehr oder weniger ausgewogen (4).
Gerade beim kolorektalen Karzinom wird deutlich, wie die Präzisionsonkologie individuelle Merkmale wie genetische Veränderungen des Tumors nutzt, um die Behandlung gezielt anzupassen. Ziel ist es, die Therapie wirksamer und verträglicher zu machen. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass auch das biologische Geschlecht ein wichtiger Faktor in der personalisierten Krebstherapie ist – und daher stärker in die Diagnose und Behandlung einbezogen werden sollte.
Hinter der Diagnose „Darmkrebs“ oder „Rektumkarzinom“ verbergen sich von Person zu Person ganz unterschiedliche Formen der Erkrankung. Die Präzisionsonkologie bei Darmkrebs betrachtet mehrere Details, um für jede Patientin und jeden Patienten die bestmögliche, maßgeschneiderte Therapie zu finden (5,6). Zu diesen Details gehören:
- Molekulare Charakteristika: Veränderungen auf der Ebene der Zellen
- Genetische Unterschiede: Veränderungen in der Erbinformation der Tumorzellen
- Lage des Ursprungstumors im Darm: rechts- oder linksseitig
Unterschiede in der Lage des Tumors
Ein entscheidender Faktor bei der Behandlung ist, ob der Tumor auf der rechten oder linken Seite des Darms liegt.
Männer haben häufiger Tumoren häufiger im linken Teil des Dickdarms, Frauen eher auf der rechten Seite (7,8).
Rechtsseitige Tumoren – also z. B. im Blinddarm – zeigen oft Veränderungen bestimmter Gene wie BRAF oder RAS und gehören häufiger zu einem bestimmten molekularen Subtyp, der mit einer schlechteren Prognose verbunden ist. BRAF- und RAS-Mutationen sind genetische Veränderungen, die das unkontrollierte Wachstum von Krebszellen begünstigen. Vereinfacht gesagt sorgen sie dafür, dass der Körper ständig Signale aussendet, die den Tumor weiterwachsen lassen.
Molekulare Unterschiede zwischen den Geschlechtern
Frauen mit metastasiertem Darmkrebs haben im Vergleich zu Männern häufiger:
- MSI-High/MSI-H-Tumoren: MSI ist die Abkürzung für die Mikrosatelliten-Instabilität - ein Hinweis darauf, dass die Zelle Schwierigkeiten hat, Fehler im Erbgut zu reparieren, was das Risiko für Tumorwachstum erhöhen kann. MSI-H-Tumoren sprechen auf Immuntherapien an.
- BRAF-Mutationen: Diese Tumoren haben eine schlechtere Prognose, mittlerweile gibt es allerdings gute Daten zu zielgerichteten Therapien.
Auch bei fortgeschrittenem Dickdarmkrebs (Stadium II/III) ist MSI-H ein wichtiger Marker für eine günstigere Prognose. Patient:innen mit einem solchen Tumor haben in der Regel ein längeres Überleben und ein geringeres Rückfallrisiko (9). Besonders häufig tritt MSI-H bei Frauen, älteren Menschen und bei Tumoren auf der rechten Seite des Dickdarms auf (9). Aktuelle Daten deuten außerdem darauf hin, dass eine Immuntherapie vor der Operation bei diesen Tumoren besonders wirksam sein könnte (10).
Nebenwirkung von Chemotherapien: Frauen stärker betroffen
In der Therapie des metastasierten kolorektalen Karzinoms bilden drei Medikamente die Grundlage der Systemtherapie: 5-Fluorouracil, Irinotecan und Oxaliplatin (5,6). Frauen reagieren in Bezug auf Nebenwirkungen oft empfindlicher auf 5-Fluorouracil oder Irinotecan (11-13). Ein Grund dafür könnte sein, dass ihr Körper 5- Fluorouracil langsamer abbaut.
Auch die Körperoberfläche, nach der Chemotherapien dosiert werden, spielt bei der Verträglichkeit eine Rolle. Dabei wird nicht berücksichtigt, wie viel Muskulatur oder fettfreie Masse eine Person hat. Da vor allem die fettfreie Masse – also Muskeln und Organe – den Medikamentenstoffwechsel beeinflusst, kann es hier zu Unterschieden kommen. Männer haben bei gleichem Gewicht und gleicher Größe meist deutlich mehr stoffwechselaktive Masse als Frauen.
Durch den langsameren Abbau der Medikamente und die unzureichende Berücksichtigung der fettfreien Masse erhalten Frauen möglicherweise – unbeabsichtigt – eine höhere wirksame Dosis als Männer, was das Risiko für stärkere Nebenwirkungen erhöhen kann. Umgekehrt haben Männer vielleicht eine zu niedrige Dosierung einzelner Medikamente, weil sie sie schneller verstoffwechseln.
Wirksamkeit von Therapien: Männer profitieren mehr
In Studien zeigte sich: Männer profitieren bei fortgeschrittenem Darmkrebs häufiger von intensiver Chemotherapie als Frauen (14,15). Bei Frauen brachte eine intensivere Behandlung nicht unbedingt Vorteile – im Gegenteil, sie war teilweise sogar mit einem schlechteren Überleben verbunden (14). Deshalb wird am LMU Klinikum derzeit eine neue Studie geplant, die diese Frage speziell bei Frauen mit Darmkrebs untersucht.
Der Einfluss des Geschlechts wird auch bei Immuntherapien bei Darmkrebs immer deutlicher. Frauen zeigen zwar eine stärkere Immunantwort, profitieren bisher aber scheinbar weniger von der Therapie als Männer (16) – und haben häufiger stärkere Nebenwirkungen (17). Die genauen Ursachen sind noch unklar, und es fehlen noch gezielte Studien, die diese Unterschiede systematisch untersuchen.
Lebensqualität nach der Behandlung
Die Lebensqualität von Darmkrebs-Überlebenden unterscheidet sich zwischen den Geschlechtern: Frauen berichten in einer Studie häufiger über körperliche Beschwerden wie Übelkeit oder Schlafstörungen, Männer hingegen über Müdigkeit, Atemnot und psychische Belastungen. Im Vergleich zu einer gesunden Referenzgruppe zeigen Männer nach der Krebserkrankung besonders starke Einbußen in sozialen und Rollenfunktionen, während Frauen eher körperliche und kognitive Einschränkungen erleben (18).
Ein unbeabsichtigtes, aber wichtiges Ergebnis zeigt: Schon ohne Krebserkrankung berichten Frauen in der Referenzgruppe über eine geringere Lebensqualität als Männer – sie fühlen sich im Durchschnitt psychisch und körperlich belasteter. Ein reiner Vergleich der absoluten Werte lässt also vermuten, dass Frauen nach einer Krebserkrankung stärker betroffen sind. Betrachtet man jedoch den Unterschied zur gesunden Vergleichsgruppe, zeigt sich, dass Männer in bestimmten Bereichen – insbesondere in der sozialen und Rollenfunktion – stärkere Einbußen haben (18).
Diese Ergebnisse lassen sich nicht allein durch das biologische Geschlecht erklären und verdeutlichen die Bedeutung des sozialen Geschlechts in der Therapie. Um solche Auswirkungen besser zu verstehen, sollten zukünftige Studien auch soziale Aspekte systematisch erfassen.
Weitere Forschung zu Geschlechterunterschieden nötig
Trotz bekannter geschlechtsspezifischer Unterschiede bei kolorektalen Karzinomen werden diese bislang kaum in der klinischen Praxis berücksichtigt – auch weil viele Erkenntnisse aus ungeplanten Analysen stammen. Für eine individuellere Behandlung sind geschlechtersensible Studiendesigns, die Anpassung der Medikamentendosierung an pharmakologische Unterschiede, gezielte Biomarker-Analysen, die Erforschung hormoneller und immunologischer Einflüsse sowie die Berücksichtigung des sozialen Geschlechts notwendig. Die Berücksichtigung des Geschlechts in der Onkologie kann als wichtiger Baustein der personalisierten Medizin die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten relevant verbessern.
1) Hiller J, Schatz K, Drexler H. Gender influence on health and risk behavior in primary prevention: a systematic review. J Public Health. 2017;25:339–49.
2) Kautzky-Willer A. Gendermedizin. Bundesgesundheitsbl. 2014;57:1022–30.
3) Sung H, Ferlay J, Siegel RL, Laversanne M, Soerjomataram I, Jemal A, et al. Global Cancer Statistics 2020: GLOBOCAN Estimates of Incidence and Mortality Worldwide for 36 Cancers in 185 Countries. CA Cancer J Clin. 2021;71(3):209-49.
4) Robert Koch-Institut. Darmkrebs. Inzidenz Gesundheitsberichterstattung des Bundes. 2024
5) Cervantes A, Adam R, Roselló S, Arnold D, Normanno N, Taïeb J, et al. Metastatic colorectal cancer: ESMO Clinical Practice Guideline for diagnosis, treatment and follow-up. Ann Oncol. 2022.
6) Cervantes A, Adam R, Roselló S, Arnold D, Normanno N, Taïeb J, et al. Metastatic colorectal cancer: ESMO Clinical Practice Guideline for diagnosis, treatment and follow-up. Ann Oncol. 2023;34(1):10-32.
7) Baraibar I, Ros J, Saoudi N, Salvà F, García A, Castells MR, et al. Sex and gender perspectives in colorectal cancer. ESMO Open. 2023;8(2).
8) Dekker E, Tanis PJ, Vleugels JLA, Kasi PM, Wallace MB. Colorectal cancer. Lancet. 2019;394(10207):1467-80.
9) Noepel-Duennebacke S, Juette H, Feder IS, Kluxen L, Basara N, Hiller W, et al. High microsatellite instability (MSI-H) is associated with distinct clinical and molecular characteristics and an improved survival in early Colon cancer (CC); real world data from the AIO molecular registry Colopredict Plus. Z Gastroenterol. 2020;58(6):533-41.
10) Chalabi M, Verschoor YL, Tan PB, Balduzzi S, Van Lent AU, Grootscholten C, et al. Neoadjuvant Immunotherapy in Locally Advanced Mismatch Repair-Deficient Colon Cancer. N Engl J Med. 2024;390(21):1949-58.
11) Sloan JA, Goldberg RM, Sargent DJ, Vargas-Chanes D, Nair S, Cha SS, et al. Women experience greater toxicity with fluorouracil-based chemotherapy for colorectal cancer. J Clin Oncol. 2002;20(6):1491-8.
12) Sloan JA, Loprinzi CL, Novotny PJ, Okuno S, Nair S, Barton DL. Sex differences in fluorouracil-induced stomatitis. J Clin Oncol. 2000;18(2):412-20.
13) Tejpar S, Yan P, Piessevaux H, Dietrich D, Brauchli P, Klingbiel D, et al. Clinical and pharmacogenetic determinants of 5-fluorouracyl/leucovorin/irinotecan toxicity: Results of the PETACC-3 trial. Eur J Cancer. 2018;99:66-77.
14) Heinrich K, Modest DP, Ricard I, Fischer von Weikersthal L, Decker T, Kaiser F, et al. Gender-dependent survival benefit from first-line irinotecan in metastatic colorectal cancer. Subgroup analysis of a phase III trial (XELAVIRI-study, AIO-KRK-0110). Eur J Cancer. 2021;147:128-39.
15) Modest DP, Fischer von Weikersthal L, Decker T, Vehling-Kaiser U, Uhlig J, Schenk M, et al. Sequential Versus Combination Therapy of Metastatic Colorectal Cancer Using Fluoropyrimidines, Irinotecan, and Bevacizumab: A Randomized, Controlled Study-XELAVIRI (AIO KRK0110). J Clin Oncol. 2019;37(1):22-32.
16) Conforti F PL, Bagnardi V, De Pas T, Martinetti M, Viale G, Gelber RD, Goldhirsch A. Cancer immunotherapy efficacy and patients’ sex: a systematic review and meta-analysis. Lancet Oncol. 2018;19:737-46.
17) Unger JM, Vaidya R, Albain KS, LeBlanc M, Minasian LM, Gotay CC, et al. Sex Differences in Risk of Severe Adverse Events in Patients Receiving Immunotherapy, Targeted Therapy, or Chemotherapy in Cancer Clinical Trials. J Clin Oncol. 2022;40(13):1474-86.
18) Oertelt-Prigione S, de Rooij BH, Mols F, Oerlemans S, Husson O, Schoormans D, et al. Sex-differences in symptoms and functioning in >5000 cancer survivors: Results from the PROFILES registry. Eur J Cancer. 2021;156:24-34.
Autorin:
Dr. med. Kathrin Heinrich, Ärztin in der Medizinischen Klinik und Poliklinik III, stellvertretende ärztliche Leitung des Präzisionsonkologie-Programms des CCC MünchenLMU und onkologische Koordinatorin des Magen- und Ösophaguskrebszentrums des CCC MünchenLMU